Dienstag, 4. November 2014






Emergenz als Erfolgsprinzip


erschienen in der QZ-Ausgabe 11/2014 des Hanser Verlages, http://bit.ly/1A9JhPb







Geht es um die Kundenwahrnehmung, so betreten Unternehmen häufig Terra incognita. Bei Neuentwicklungen können sie bestenfalls über aufwendige Marktforschung erkunden, ob ein neues Produkt Chancen im Markt hat. Erfolgreiche Unternehmen hingegen schaffen für die Abschätzung der schwer vorhersagbaren Empfindungen ihrer Kunden und anderer Stakeholder ein Methoden-Framework.






Marcus Schorn ist Gründer und Entwicklungsvorstand des Softwareunternehmens PLATO AG, Lübeck. Er studierte Informatik an der Universität Hamburg mit Schwerpunkt künstliche Intelligenz. Ferner bildete er sich weiter zum Coach und Psychotherapeuten und gestaltet seit über zehn Jahren industrielle Arbeitskreise zum Thema Organisationsentwicklung. Hierbei bewegen sich die Diskussionen in den Spannungsfeldern: Strategie und Qualität, Philosophie und Werte, Technologie und Mensch.



Ein Framework stellt für Unternehmen eine wiederverwendbare, gemeinsame Struktur für die Methodenanwendung zur Verfügung – eben einen Rahmen. Dieser kann an die spezifischen Belange und Anforderungen eines Unternehmens angepasst werden. Das methodische Vorgehen innerhalb des Frameworks führt dazu, dass Wissen aus den Ergebnissen der Methodenanwendung aus unterschiedlichen Bereichen zu einer Vernetzung gelangt. Dieses vernetzte Wissen repräsentiert eine erweiterte Intelligenz und ist tatsächlich aktuell. Es entspricht dem tatsächlich wahrgenommenen Realitätsausschnitt und ist nicht rückblickend erhoben. Das dahinterliegende Prinzip mag ein Beispiel aus unserem technisierten Alltag beleuchten:
Seit einiger Zeit haben wir einen neuen Familienangehörigen. "Robbie" wird er liebevoll von uns genannt. Robbie ist ein Haushaltsroboter und hilft uns dabei, unsere Fußböden schmutz- und staubfrei zu halten. Mit unserem Robbie verbindet mich der Mitbegründer des Unternehmens iRobot, das Robbie produziert hat: Rodney A. Brooks.
Rodney A. Brooks und seine Philosophie lernte ich in den frühen 90er-Jahren kennen. Wenn ich sehe, wie Robbie sich im Raum bewegt, dann zeigt er deutlich, welchem Geist er entsprungen ist. Am Anfang fährt er in spiralförmigen Bahnen über den Boden, bis er auf einen Gegenstand stößt. Diesem weicht er aus und beginnt nun ein anderes Verhaltensmuster, beispielsweise den Raum in diagonalen oder parallelen Bahnen zu durchfahren. Erkennt Robbie, dass er eine Wand erreicht hat, folgt er dieser mit wippenden Bewegungen möglichst lange.

Warum in Echtzeit reagieren?

Hier wurde eine Idee aus der Forschung zu künstlicher Intelligenz realisiert: die Subsumption Architecture, die Wikipedia folgendermaßen beschreibt:
"Rodney Brooks‘ Ansatz zum Bau von Robotern, die sich in veränderlichen Umgebungen flexibel bewegen können, liegt in der Teilung des Verhaltensrepertoires in viele parallel berechnete Verhaltensmuster, von denen das jeweils adäquate automatisch ausgewählt wird. Anstatt in serieller Art und Weise verschiedene Berechnungsblöcke in Reihe zu schalten (Wahrnehmung, Kognition, Handlung), konstruiert der Roboter keine Repräsentation seiner Umgebung, sondern handelt direkt nach seinen Sensordaten.
Für jedes Verhaltensmuster ist jeweils nur ein Bruchteil der eingehenden Sensordaten relevant, was die Berechnung stark vereinfacht. Die Auswahl des tatsächlich ausgeführten Verhaltens ist durch die Sensordaten bestimmt, wobei nicht zwischen Selbstwahrnehmung (zum Beispiel Batteriestatus) und Wahrnehmung der Welt unterschieden wird. Erreicht ein Verhaltensmuster seine Aktivierungsschwelle, unterdrückt es die Ausführung aller anderen Verhaltensmuster. Eine solche Architektur erlaubt Reaktionen in Echtzeit, ist allerdings nicht lernfähig."
Robbie entwickelt also keine Vorstellung von dem Raum, den er durchläuft, und er könnte auch nichts über seine Prinzipien von Sauberkeit oder seine Methode zu deren Herstellung sagen. Dennoch ist er in der Lage, eine einigermaßen komplexe Aufgabe zuverlässig und relativ effizient zu lösen. Seinen Lösungsansatz hatte sich Rodney A. Brooks in den späten 80er-Jahren von der Natur abgeschaut, nämlich dem Ameisenstaat.
Das Gehirn einer Ameise weist bei Weitem nicht genug Kapazität auf, um darin Baupläne, Angriffsstrategien oder Statik-Modelle zu speichern, geschweige denn entwickeln zu können. Trotzdem ist ein Ameisenstaat in der Lage, sehr komplexe Handlungen zu vollziehen. So können Ameisen gemeinsam Brücken bauen, groß angelegte Feldzüge unternehmen und Staatsformen mit komplexer Arbeitsteilung organisieren.

Wie entsteht Emergenz?

Diese Fähigkeit nennt man Emergenz, das Entstehen von komplexen Handlungen auf der Basis sehr einfacher Verhaltensmuster. Ein einzelner Beteiligter (oder eine Ameise) könnte nicht erklären, wie das komplexe Gruppenverhalten entstanden ist. Bei Robbie sind es unterschiedliche Verhaltensmuster und Methoden, die auf das jeweils Erlebte und Wahrgenommene reagieren. Es handelt sich hierbei um ein einfaches Framework von Verhaltensweisen, das sich nach sehr einfachen Regeln an die Umwelt anpasst. Es bringt das Verhalten "Entferne möglichst allen Schmutz von Böden der Räume, in denen Du dich bewegst" hervor – ein klassisches Beispiel für Emergenz. Aus einfachen Regeln entstehen komplexe Verhaltensmuster, die Summe ist damit mehr als die Einzelteile.
Dieses Potenzial zu aktivieren heißt, echten und großen Mehrwert zu generieren. Das gelingt umso besser, wenn man es schafft, dass das Zusammenspiel der einzelnen Methoden noch lernfähig ist. Damit könnte man Emergenz auf einer wesentlich höheren Ebene erreichen. Und damit kann ein Unternehmen sogar unter der Bedingung schwer prognostizierbarer und sich rasch wandelnder Märkte erfolgreich sein.

Wie sehen Sie die Lernfähigkeit beim Zusammenspiel der einzelnen Methoden? Wie reagieren Sie auf die Rückmeldungen vom Markt? Und wie gestalten Sie Innovationen? Diskutieren Sie mit uns! Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.
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